Sōsan – Hsin-Hsin-Ming
(Vertrauen in das eigene Bewusstsein)

sosan

Geschichtlicher Hintergrund

Sōsan, (oder auch: Jianzhi Sengcan) lebte im 6. Jahrhundert und gilt als der dritte Patriarch des Chan-Buddhismus in China. Obwohl nur wenig über sein Leben bekannt ist, überdauerte sein spirituelles Wirken durch sein Werk „Hsin-Hsin-Ming“ („Vertrauen in das eigene Bewusstsein“). In diesem Text spricht Sosan darüber, dass Erwachen nicht durch intellektuelles Streben, sondern durch das Loslassen aller Gegensätze und das Vertrauen in die ursprüngliche Natur des Bewusstseins erlangt wird. Er betont, dass Wahrheit weder gesucht noch gefunden, sondern nur unmittelbar erfahren werden kann, wenn das Denken zur Ruhe kommt.

 

Diese Lehre wurde zu einem Kernprinzip des späteren Zen-Buddhismus, in dem Erwachen als eine Rückkehr zu dem verstanden wird, was immer schon gegenwärtig ist.

Sosan – Hsin-Hsin-Ming (Vertrauen in das eigene Bewusstsein)

    Der große Weg ist nicht schwierig
    für denjenigen, der keine Vorlieben hat.
    Wenn Vorliebe und Abneigung beide abwesend sind,
    wird alles klar und offenbar.
    Triff jedoch die kleinste Unterscheidung,
    und Himmel und Erde sind unendlich getrennt.

     

    Wenn du die Wahrheit erkennen willst,
    dann nimm keine Haltung für oder gegen etwas ein.
    Der Kampf zwischen Vorliebe und Abneigung
    ist die Krankheit des Geistes.
    Wenn dieses tiefste Prinzip nicht verstanden wird,
    wird die grundlegende Stille des Geistes sinnlos gestört.

     

    Der Weg ist vollkommen wie Sūnyatā, die große Leere, in der nichts zu wenig und nichts zu viel ist.
    Durch unsere Wahl die Phänomene anzunehmen oder abzulehnen, können wir die wahre Natur der Dinge nicht erkennen.
    Verstricke dich weder in äußere Phänomene, noch verliere dich in den inneren Gefühlen von Leerheit, Sūnyatā.

     

    Verweile gelassen und ohne begehrende Aktivität in der Einheit der Dinge und die dualistischen Ansichten lösen sich von selbst auf.
    Versuchst du aber, Aktivität zu stoppen um Ruhe zu erlangen, erfüllt genau dieses Bemühen dich mit Aktivität.

     

    Solange du dich in den Gegensätzen des einen Extrems oder des anderen befindest, wirst du Eins-Sein niemals verstehen.
    Diejenigen, die nicht den Weg des Eins-Seins leben, scheitern sowohl in Aktivität und Passivität, annehmen und verweigern.

     

    Wer die Realität der Dinge leugnet, verkennt ihre tiefere Wirklichkeit.
    Wer die Realität der Dinge behauptet, verkennt die Leere aller Dinge.
    Je mehr du redest und darüber nachdenkst,
    umso weiter entfernst du dich von der Wahrheit.
    Hör auf zu reden und zu denken und es gibt nichts, was dir nicht offenbart wird.

     

    Zum Ursprung zukehrend findest du den Sinn,
    den Erscheinungen folgend verfehlst du die Quelle.
    Im Erwachen gehst du jenseits der Phänomene und Sūnyatā.
    Die Veränderungen die in der leeren Welt erscheinen, halten wir nur aufgrund unserer Ignoranz für real.
    Suche nicht nach der Wahrheit, höre nur auf deine Konzepte festzuhalten.

     

    Verweile nicht in dualistischen Anschauungen,
    vermeide sorgsam ihnen zu folgen.
    Die kleinste Spur von richtig oder falsch
    und der Verstand verliert sich in Verwirrung.

     

    Auch wenn der Ursprung der Dualität das Eine ist,
    halte dennoch auch dieses Eine nicht fest.
    Wenn der Geist auf dem Weg nicht zerstreut ist,
    kann ihn nichts in der Welt mehr stören.

     

    Und wenn etwas den Geist nicht mehr stören kann,
    hört es auf in der bisherigen weise zu existieren.

     

    Erscheinen keine unterscheidenden Gedanken mehr,
    löst sich auch der alte Verstand auf.

     

    Wenn die Gedanken-Objekte sich auflösen,
    löst sich das denkende Subjekt auf.
    Sobald der Verstand vergeht, vergehen die Objekte,
    Phänomene sind Objekte aufgrund des Subjekts.
    Der Verstand ist bedingt durch die Phänomene.

     

    Erkenne die Relativität dieser beiden Aspekte und die zugrundeliegende Realität des Eins-Seins der Leerheit (Sūnyata)
    In Sūnyatā sind beide Aspekte ununterscheidbar und jedes enthält in sich das Ganze.

     

    Wenn keine Unterscheidung zwischen diesem und jenem getroffen wird,
    wie kannst du dann das eine dem anderen vorziehen?

     

    Den großen Weg zu leben ist weder einfach noch schwierig, aber diejenigen mit beengten Sichtweisen sind ängstlich und unentschlossen.
    Je schneller sie laufen, desto langsamer kommt sie voran und ihre Anhaftungen sind grenzenlos.
    Selbst das Streben nach Erleuchtung führt in die Irre.

     

    Lass die Dinge einfach so sein, wie sie sind,
    und es gibt weder Kommen noch Gehen.
    Gib dich deiner wahren Natur hin und du gehst den Weg frei und ungestört.
    Gefangen in deinen Gedanken verlierst du den Weg, denn alles ist trübe und unklar
    und du versinkt in Dunkelheit und Frustrationen.
    Warum also an etwas festhalten oder etwas ablehnen?

     

    Wenn du den Einen Weg gehen willst,
    solltest du nicht einmal die Welt der Sinne und Ideen ablehnen.
    Die Objekte der Sinne vollständig zu akzeptieren ist vollkommenes Erwachen.

     

    Der Weise handelt im Einklang mit dem Tao.
    Der Verwirrte wird durch seine Störgefühle gelenkt.
    Während im Dharma
    kosmische Wahrheit, die zur Befreiung von Leid führt
    nicht unterschieden wird,
    begehrt der Verwirrte einzelne Phänomene.

     

    Das Bewusstsein mit dem Verstand zu suchen ist der größte Fehler.
    Frieden und Unruhe entspringen dem Denken; Erwachen aber ist ohne Vorliebe oder Abneigung.

     

    Alle dualistische Anschauungen entstammen dem verwirrten Geist.
    Sie sind wie Träume oder Lichtspiegelungen,
    nur Dumme versuchen, nach ihnen greifen.
    Gewinn und Verlust, richtig und falsch –
    lass diese Gedanken ein für alle mal los!

     

    Wenn das Auge wach ist,
    lösen sich die Träume von selbst auf.
    Wenn der Geist keine Unterscheidungen trifft, sind alle Phänomene Eins.
    In der innersten Natur des Einen
    sind alle Verstrickungen vergessen.

     

    Wenn du das Eine in den Erscheinungen siehst,
    kehrst du zurück zu deiner ursprünglichen Natur.

     

    Sind die Ursachen ausgelöscht, hört das Vergleichen auf.
    Betrachte die Bewegung in der Stille und das Stille in der Bewegung,
    so verschwinden sowohl Bewegung als auch Ruhe.
    Wenn solche Dualitäten aufhören zu existieren,
    kann nicht einmal die Einheit selbst existieren.

     

    Da, wo es nicht mehr weiter geht,
    gibt es keinen Pfad und keine Regeln.
    Beginnt das Bewusstsein der Nicht-Unterscheidung, verschwinden alle selbstbezogenen Handlungen.
    Das Vertrauen ist in wahrer Harmonie und befreit von Zweifel und Unentschlossenheit.

     

    Völlig befreit haftet nichts mehr an dir, und du hältst an nichts mehr fest.
    Alles ist leer, klar und selbsterleuchtend,
    ohne dass du den Geist anstrengen musst.
    Dieser Ort ohne Denken und Urteilen
    ist nicht mit dualistischem Wissen oder aufgeregten Gefühlen zu ergründen.

     

    Unwandelbare Soheit ist die Welt des Dharma,
    ohne ein anderes, ohne ein Selbst.
    Wenn ich die wesentlichste Eigenschaft beschreiben sollte, würde ich nur sagen: Nicht-Zwei
    In Nicht-Zwei ist alles von einem Geschmack.
    Es gibt nichts, was nicht enthalten ist.

     

    Die Weisen aller zehn Weltgegenden betraten sämtlich diesen Pfad jenseits von Raum und Zeit.
    Zehntausend Jahre sind nur ein Gedanke.
    Weder Sein noch Nicht-Sein,
    es liegt direkt vor deinen Augen.

     

    Das Kleinste ist gleich dem Größten,
    wenn die Unterscheidung fallen gelassen wird.
    Das Größte ist gleich dem Kleinsten,
    wenn die Unterscheidung fallen gelassen wird.

     

    Sein ist nicht getrennt von Nicht-Sein.
    Nicht-Sein ist nicht getrennt von Sein.
    Vergeude keine Zeit mit Zweifeln, in denen es nicht so ist.

     

    Das Einzelne ist nicht getrennt von Allem.
    Alles ist nicht getrennt vom Einzelnen.
    Wenn du Sūnyatā verstehst, gibt es keinen Grund mehr, dich um deine Fehler zu sorgen.

     

    Der Wahre Geist ist Nicht-Zwei.
    Nicht-Zwei ist der Wahre Geist.
    Der Weg des Tao ist jenseits der Worte,
    ohne Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart gibt es kein Gehen mehr und kein Kommen mehr.