Tilopas Gesang von Mahāmudrā

tilopa

Geschichtlicher Hintergrund

Tilopa (988–1069) war der bedeutendste indische Vorvater des tibetischen Buddhismus. Er arbeitete, nachdem er das Kloster verlassen hatte, nachts als Gehilfe einer Prostituierten und tagsüber als Sesamstampfer auf einem Markt in Ostindien.

 

Lehrer von Naropa (1016–1100)

Erleuchtung erlangte Nāropa als er eines Tages nach einer weiteren Unterweisung fragte und stattdessen von Tilopa einen Schlag auf den Kopf mit dessen Schuh bekam. Dadurch fielen die letzten Schleier von Naropas Geist und er verwirklichte Mahāmudrā. Anschließend lehrte er 21 Jahre in Kathmandu und lehrte den Dharma.

Kapitel 1 bis 28

1.

Mahamudra kann nicht gelehrt werden.

Doch deine Hingabe an deinen Lehrer

und die Entbehrungen, denen du begegnet bist,

haben dich, Naropa, der Mühsal gegenüber geduldig gemacht und ebenso weise:

Nimm dir dies zu Herzen, mein würdiger Schüler.

2.

Betrachte den freien Raum: was beruht hier auf was?

So ist es auch mit Mahamudra: es beruht auf nichts.

Ohne zu beeinflussen – lass los – lass sein und ruhe unbefangen.

Lass das, was dich festhält los und die Ungebundenheit ist ohne Zweifel.

3.

Wenn du in den freien Raum schaust, hört Sehen auf.

So verhält es sich auch mit dem Geist:

wenn er auf den Geist schaut, kommt der Strom der Gedanken zu seinem Ende

und höchstes Erwachen geht daraus hervor.

4.

Nebel entsteigt der Erde und entschwindet im Raum.

Er geht nirgendwo hin, noch bleibt er.

Ebenso entstehen Gedanken,

doch sobald du deinen Geist erkennst, klären sich die Wolken der Gedanken.

5.

Der freie Raum ist jenseits von Farbe oder Gestalt.

Er nimmt keine Farbe an, weder schwarz noch weiß: er verändert sich nicht.

Ebenso hat dein Geist in seiner Essenz weder Farbe noch Gestalt.

Er wandelt sich nicht, nur weil du Heilsames oder Unheilsames tust.

6.

Selbst die Dunkelheit von tausenden Äonen kann den strahlenden Glanz,

welcher die Essenz der Sonne ist, nicht verdunkeln.

Ebenso können Äonen von Samsara die reine Klarheit,

welche die Essenz deines eigenen Geistes ist, nicht verdunkeln.

7.

Wenngleich du auch sagst, der freie Raum sei leer,

so kannst du dennoch nicht behaupten, dass er so sei

Und ebenso, obwohl der Geist als reine Klarheit gilt, ist dort eben nichts

du kannst nicht behaupten, er sei so.

8.

Demnach ist die Natur des Geistes von Natur aus wie der freie Raum:

Er enthält alles was du erlebst.

9.

Stelle jegliche körperliche Aktivität ein: sitze unbefangen gelassen.

Unterhalte dich nicht, noch rede: Lass die Klänge leer sein, gleich dem Echo.

Grüble über nichts nach und schaue auf die Erfahrung jenseits der Gedanken.

10.

Dein Körper hat keinen Kern, ist hohl wie ein Bambus.

Dein Geist geht über bloße Gedanken hinaus,

ist offen wie der freie Raum.

Lass Kontrolle los und ruhe genau dort.

11.
Ein Geist ohne Projizierungen, das ist Mahāmudrā.
Übe und entwickle dies und höchstes Erwachen wird daraus hervorgehen.
12.
Du verstehst die reine Klarheit von Mahāmudrā nicht mit Hilfe der klassischen Texte oder der philosophischen Systeme.
Noch verstehst du ihn durch Mantras, die Paramitas,

(transzendente Tugenden, die ans andere (para) Ufer (mita) der Weisheit, also zum Erwachen, führen)

des Vinaya,

(Sammlung von buddhistischen Ordensregeln)

die Sutras oder anderem Sammelsurium.

13.
Jeglicher Ehrgeiz verschleiert die reine Klarheit und du wirst sie nicht sehen.
Über Gelöbnisse nachzudenken untergräbt dein Engagement.
Denke über nichts nach; lass jeglichen Ehrgeiz fallen.
Lass das was aufsteigt sich wieder durch sich selbst beruhigen,

wie die Muster auf dem Wasser.
Alles verfehlt, auch eine Fokussierung auf ein Ziel –
Brich dein Engagement nicht – es ist das Licht im Dunkeln.
14.
Wenn du frei von Ehrgeiz bist und an keinen Standpunkten festhältst,
wirst du all das verstehen, was die Schriften lehren.
Wenn du dich dem öffnest, bist du frei vom Gefängnis des Samsara.
Wenn du dich dort hinein entspannst, wird alles Unheilsame und jede Verzerrung verglühen.
Dies wird „das Licht der Lehre“ genannt.

15.
Die Dummköpfe sind daran nicht interessiert;
von den Strömen des Samsara werden sie ständig fortgezogen.
Oh, wie bedauernswert diese Dummköpfe doch sind,

ihre Mühsal endet nie.
Nimm diese Mühsal nicht hin, sehne dich nach Freiheit,
und vertraue auf einen erfahrenen Lehrer.
Wenn seine Energie dein Herz betritt, wird dein eigener Geist frei sein.

16.
Welch Freude!
Die Wege des Samsara sind unsinnig: sie sind die Samen des Leidens.
Die üblichen Wege sind zwecklos:

Richte dein Augenmerk auf das, was stimmig ist und wahr.
Die höchste Anschauung ist jenseits von Bindung.
Die höchste Übung bedeutet keine Zerstreuung.
Das höchste Verhalten ist weder Tätigsein noch Anstrengung.
Die Frucht zeigt sich, wenn du frei bist von Hoffnung und Furcht.

17.
Jenseits irgendeines Bezugsrahmens ist der Geist unbefangen und klar.
Wo es keinen Pfad gibt, beginnt der Pfad des Erwachens.
Wo an nichts zu arbeiten ist, kommst du beim tiefsten Erwachen an.
18.
Ach! Betrachte sorgfältig die Erfahrungen von dieser Welt.
Nichts bleibt bestehen.

Es ist wie ein Traum, wie Magie.
Der Traum und die Magie, sie ergeben keinen Sinn.
Erlebe diesen Kummer und vergiss die Belange der Welt.
19.
Durchschneide alle verstrickten Bindungen mit dem Land oder der Sippe.
Übe allein in Wäldern oder zurückgezogen in den Bergen.
Ruhe, ohne irgendetwas auszuüben.
Wenn du bei diesem Zu-Nichts-Gelangen angelangst, kommst du bei Mahamudra an.

20.

Ein Baum breitet seine Zweige und Blätter aus.

Schneid die Wurzel ab und zehntausend Äste verdorren.

Schneidest du ebenso die Wurzel des Geistes ab,

verwelken die Blätter des Samsara.

21.

Obwohl sich die Dunkelheit seit tausenden Äonen ansammelt,

vertreibt ein einziges Licht sie vollkommen.

Ebenso vertreibt ein Moment der reinen Klarheit

die Unwissenheit, das Unheilsame und die Verwirrung tausender Äonen.

22.

Oh welch Freude!

Mit dem Verstand erkennst du nicht, was jenseits des Verstandes ist.

Durch Geschäftigkeit wirst du nicht verstehen, was untätig sein bedeutet.

Wenn du wissen willst, was jenseits des Verstandes und der Geschäftigkeit ist,

dann durchschneide deinen Geist an seiner Wurzel und ruhe in nacktem Gewahrsein.

23.

Lass die trüben Wasser der Gedanken sich beruhigen und sich klären.

Lass die Erscheinungen von selbst kommen und gehen.

Ohne etwas zu ändern wird die Welt, die du erlebst, zu Mahamudra.

Weil der Urgrund der Erfahrung keinen Anfang hat,

lassen die Muster und Verzerrungen nach.

Ruhe in dem, was keinen Anfang hat, ohne Eigeninteressen oder Erwartungen.

Lass das, was erscheint, aus sich selbst heraus erscheinen

und lass jegliche Konzepte abklingen.

24.
Die höchste Anschauung ist frei von jeglichen Bezügen.
Die höchste Übung ist unermesslich und tief, ohne Grenzen.
Das höchste Verhalten ist aufgeschlossen und unvoreingenommen.
Die höchste Frucht ist unbefangenes Sein, frei von Sorgen.

25.
Zu Beginn ist die Praxis wie ein Fluss, der sich durch eine Schlucht stürzt.
In der Mitte fließt er ruhig und sanft wie der Ganges.
Am Ende, ist es so wie dort, wo alle Wasser sich treffen,

wie bei einer Mutter und ihrem Kind.

26.
Wenn dein Geist nicht scharfsinnig genug ist und nicht wirklich ruht,

dann arbeite an den Grundlagen der Energie

und bring die Lebendigkeit des Gewahrseins hervor.

Verwende diverse Techniken und festes Blicken, um den Geist zu fokussieren.

Übe dich in Gewahrsein, bis er wahrhaftig ruht.

27.
Wenn du mit einem Intimpartner übst, steigt leeres, glückseliges Gewahrsein auf.
Das gleichmäßige Abstimmen von Methode und Weisheit wandelt die Energie.
Lass sie sanft absteigen, sammle sie, zieh sie empor und bring sie zurück an ihren Platz, und lass sie dann deinen ganzen Körper durchdringen.
Wenn du frei von Verlangen und Begierde bist, steigt leeres, glückseliges Gewahrsein auf.

28.
Ein langes Leben wird dir zuteil und du scheinst wie der Mond.
Du strahlst Gesundheit und Wohlergehen aus und bist kräftig wie ein Löwe.
Die einfachen Fähigkeiten erlangst du rasch und öffnest dich dann dem Höchsten.
Mögen diese Schlüsselunterweisungen,

welche die Grundlagen des Mahāmudrā umfassen,
in den Herzen aller würdigen Wesen verweilen