Adi Shankara: Atma Bodha – Erkenntnis des Selbst

shankara

Geschichtlicher Hintergrund

Adi Shankara auch als Shankaracharya (acharya = „Meister“) bekannt ist eine wichtige Figur im Hinduismus. Er stammt aus einer Brahmanenfamilie und ist Mitbegründer der Advaita Vedanta-Tradition. Er durchwanderte Indien und führte viele Streitgespräche mit Buddhisten. Sein Hauptwerk ist ein Kommentar zur Brahma Sutra, die Brahma Sutra Bhasya.

 

Atma Bodha ist eine Abhandlung über die Erkenntnis des Selbst und ist eines von Shankaras bekanntesten Werken. Der Text beschreibt die Welt, als eine Überlagerung Brahmans, in der wir uns aufgrund unserer Anhaftung an Sinnesobjekte verstricken. Durch die beständige Betrachtung der Weisheit lässt sich jedoch lernen, das Reale vom Unrealen zu unterscheiden und Befreiung zu erlangen.

Kapitel 1

Ich verfasse dieses Atma-Bodha, diese Abhandlung über die Erkenntnis des Selbst, für die, die sich durch Askeseübungen gereinigt haben,
die friedvoll im Herzen sind und ruhig, die frei von Verlangen sind und sich nach Erlösung sehnen.
So wie Feuer die direkte Ursache für das Kochen ist, kann Befreiung nicht ohne Erkenntnis erreicht werden.
Verglichen mit allen anderen Disziplinen ist die Erkenntnis des Selbst das einzige direkte Mittel zur Befreiung.
Handlung kann Unwissenheit nicht zerstören, da sie nicht in Konflikt mit Unwissenheit ist oder ihr entgegensteht.
Erkenntnis zerstört wahrlich Unwissenheit, so wie Licht tiefe Dunkelheit vertreibt.
Aufgrund von Unwissenheit scheint die Seele begrenzt zu sein.
Wenn die Unwissenheit zerstört ist, offenbart sich das Selbst, das aus keinerlei Vielfalt besteht,
wahrlich durch sich selbst – wie die Sonne, wenn die Wolken sich verziehen.
Die ständige Praxis von Erkenntnis reinigt die Seele (Atman), die durch Unwissenheit beschmutzt ist und verschwindet dann selbst –
so wie das Pulver der Kataka-Nuss nach unten sinkt, nachdem es das schmutzige Wasser gereinigt hat.
Die Welt, welche voll von Anhaftungen und Abneigungen ist, ist wie ein Traum.
Er scheint als wirklich, so lange er andauert, aber er erscheint als unwirklich, wenn man wach ist.
Die Welt erscheint als wirklich (Satyam), so lange Brahman, das Substrat,
die Basis dieser ganzen Schöpfung, nicht verwirklicht ist.
Es ist wie die Illusion von Silber im Perlmutt.
Wie Blasen im Wasser, so entstehen, bestehen und vergehen die Welten im höchsten Selbst,
welches die materielle Ursache und die Stütze von allem ist.
Die ganze manifestierte Welt der Dinge und Wesen wird durch die Vorstellungskraft auf das Substrat projiziert,
welches der ewige, all-durchdringende Vishnu ist, dessen Natur Sein-Wissen (Sat-Chit) ist
– genauso wie verschiedene Schmuckstücke alle aus demselben Gold gemacht sind.
Der alldurchdringende Raum (Akasha) erscheint differenziert aufgrund seiner Verbindung mit verschiedenen Begrenzungen (Upadhis),
welche sich voneinander unterscheiden.
Der Raum wird Eins durch die Zerstörung dieser Begrenzungen.
So erscheint auch die allgegenwärtige Wirklichkeit differenziert aufgrund ihrer Verbindung mit verschiedenen Begrenzungen
und wird eins durch die Zerstörung dieser Begrenzungen.

Durch seine Verbindung mit verschiedenen Begrenzungen werden solche Vorstellungen wie Status,
Farbe und Stellung dem Atman zugeschrieben; so wie Geschmack und Farbe dem Wasser zugeschrieben werden.
Der grobstoffliche Körper, das Medium, durch das Freude und Schmerz erfahren wird, ist das „Zelt der Erfahrungen“.

Er wird für jedes Individuum durch seine eigenen vergangenen Handlungen bestimmt und besteht aus den fünf Elementen,
die den Vorgang der „fünffachen Selbstteilung und gegenseitigen Verbindung“ (Panchikarana) durchlaufen haben.
Die fünf Pranas, die zehn Organe, Manas und Buddhi –
alles gebildet aus den fünf feinstofflichen Elementen vor dem Prozess ihrer fünffachen Teilung und wechselseitigen Verbindung –
bilden den feinstofflichen Körper, die Instrumente der Erfahrung für das Individuum.
Unwissenheit, die unbeschreiblich und anfangslos ist, ist der Kausalkörper.
Erkenne klar, dass der Atman von diesen drei begrenzenden Körpern verschieden ist.

Durch seine Identifikation mit den fünf Hüllen scheint der makellose Atman deren Eigenschaften anzunehmen,
so wie ein Kristall die Farbe seiner Umgebung anzunehmen scheint.
Durch unterscheidende Selbst-Analyse und logisches Denken sollte man das reine Selbst von den Hüllen trennen,
so wie man das Reiskorn von der Hülse trennt, die es bedeckt.
Obwohl er all-durchdringend ist, scheint Atman nicht in allen Dingen.
Es manifestiert sich nur im Inneren Instrument, dem Intellekt – wie eine Reflexion in einem sauberen Spiegel.
Man muss erkennen, dass Atman immer wie der König ist, verschieden vom Körper, den Sinnen,
dem Geist und dem Intellekt, die alle die Materie (Prakriti) ausmachen.

Atman ist der Zeuge ihrer Funktionen.
Der Mond scheint sich zu bewegen, wenn die Wolken am Himmel ziehen.
Genauso erscheint für den Menschen ohne Unterscheidungskraft Atman aktiv, wenn er durch die Sinnesorgane beobachtet wird.
Abhängig von der Lebenskraft des Bewusstseins (Atma) beschäftigen sich Körper, Sinne,
Geist und Intellekt mit ihren entsprechenden Aktivitäten –
so wie auch die Menschen abhängig vom Licht der Sonne arbeiten.